Mit neuen Kriterien zur Gewährung von Massnahmen der Psychomotriktherapie im Frühbereich schlagen die Verantwortlichen für Sonderpädagogik der Kantone Freiburg, Neuenburg, Waadt und Bern einen Rahmen für die Gewährung solcher Massnahmen vor. Damit sollen sowohl das Sonderpädagogik-Konkordat umgesetzt als auch vermehrt bio-psycho-soziale Faktoren in der Früherkennung berücksichtigt werden.
Ein Beitrag von Simone Reichenau, Co-Geschäftsleiterin Psychomotorik Schweiz
Im September 2019 beschlossen die vier Verantwortlichen für Sonderpädagogik der Kantone Freiburg, Neuenburg, Waadt und Bern – alles Mitgliedkantone der Conférence intercantonale de l’instruction publique de la Suisse romande et du Tessin (CIIP) –, ein gemeinsames Mandat zu übernehmen, um die Kriterien zur Gewährung von Massnahmen der Psychomotoriktherapie für Kinder im Vorschulbereich zu überprüfen. Chantal Junker-Tschopp, Professorin des Studiengangs Psychomotorik der HETS Genf, begleitete das Projekt als externe Beraterin, um eine akademische Einbindung der Arbeiten zu gewährleisten. Auch der Berufsverband Psychomotorik Schweiz wurde angefragt, am Projekt teilzunehmen und es mitzufinanzieren. Der Verband sagte gerne zu, da die Änderung der gesetzlichen Grundlage alle unterzeichnenden Kantone des Sonderpädagogikkonkordates betrifft. Ausserdem sah der Verband darin die Chance, die Harmonisierung der Psychomotoriktherapie auf Bundesebene voranzutreiben sowie die Angebote und die Finanzierung einer Psychomotoriktherapie für Kinder im Vorschulbereich bei den Kantonen bekanntzumachen.
Warum werden neue Kriterien für die Gewährung von Massnahmen festgelegt?
Im Zuge der Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) mussten alle Kantone ihre sonderpädagogischen Massnahmen reorganisieren. Darunter fallen auch die Massnahmen der Psychomotoriktherapie für Kinder im Vorschulbereich. Das bis heute von 16 Kantonen unterzeichnete Sonderpädagogikkonkordat bezeichnet zwar die Psychomotorik für Kinder im Vorschulbereich als Teil des sonderpädagogischen Grundangebots, es legt aber keinen Rahmen für die Gewährung solcher Massnahmen fest.
Die derzeit in den meisten auftraggebenden Kantonen anerkannten Kriterien stützen sich auf eine medizinische Diagnose. Diese Kriterien sind sehr restriktiv, weshalb nur eine Minderheit der Kinder mit Bedarf nach einer frühzeitigen psychomotorischen Intervention von entsprechenden Angeboten profitieren kann – nicht zuletzt, weil bei Kindern im Vorschulbereich oft noch gar keine medizinische Diagnose gestellt wurde. Um den Anforderungen des Sonderpädagogikkonkordats und dem Standardisierten Abklärungsverfahren (SAV) zu genügen, braucht es einen Paradigmenwechsel. Die Kriterien zur Gewährung von Massnahmen der Psychomotoriktherapie sollten auf bio-psycho-soziale Faktoren beruhen, um den gesetzlichen Grundlagen zu genügen und gleichzeitig den tatsächlichen Bedürfnissen der Kinder im Vorschulbereich zu entsprechen.
Psychomotorische Beeinträchtigungen entstehen in der Wechselwirkung zwischen Körper, Emotion und Beziehung. Bei den in der Psychomotoriktherapie beobachteten Symptomen handelt es sich häufig um eine Kombination und Kumulation von Schwierigkeiten in verschiedenen Entwicklungsbereichen. Die Arbeitsgruppe hat nun bestimmte Indikatoren herausgearbeitet, die auf ein mögliches Risiko hinweisen, dass dem Kind eine umfassende, echte und gleichberechtigte Teilhabe am sozialen Leben verwehrt bleiben könnte und dass es dementsprechend auch in seiner zukünftigen Partizipation in der Schule eingeschränkt sein würde. Die Indikatoren sollen sicherstellen, dass Kinder, die in mehreren Bereichen der Psychomotorik Auffälligkeiten aufweisen und Anzeichen auf mögliche Beeinträchtigungen zeigen, von einer Psychomotoriktherapie profitieren können. Damit werden sie in ihrer Entwicklung und in Bezug auf eine erfolgreiche Integration und Partizipation in der Schule unterstützt.
Die Indikatoren verweisen auf eine Reihe von Faktoren, die noch vor der eigentlichen Diagnose wiederkehrend und deutlich auftreten. Es handelt sich dabei um beobachtbare und identifizierbare Anzeichen auf struktureller, funktioneller, verhaltens- und umweltbezogener Ebene, die auf mögliche Schwierigkeiten in der psychomotorischen Entwicklung des Kindes hindeuten. Im Unterschied zu Symptomen, die charakteristische Marker für eine Pathologie sind, weisen die Indikatoren auf mögliche Beeinträchtigungen hin, die in eine bio-psycho-soziale Dynamik eingebettet sind.
Von der Diagnose zu den Indikatoren und schliesslich zu den Gewährungskriterien
Ausgehend von der Erkenntnis, dass die medizinische Diagnose bislang oft das einzige Kriterium zur Gewährung von Massnahmen der Psychomotoriktherapie war, erfolgte eine Analyse der vier mit der Psychomotorik am häufigsten verbundenen Diagnosen (ASS, AD(H)S, UEMF, CP) hinsichtlich ihrer klinischen und bio-psycho-sozialen Symptomatik. Dabei hat sich die Arbeitsgruppe gleichermassen auf klinisches Fachwissen wie auf die wissenschaftliche Literatur abgestützt. Die Zusammenstellung dieser Daten ermöglichte es, eine Liste von Indikatoren zu erstellen, die danach gemäss den fünf Evaluations- und Beobachtungsachsen der Psychomotorik in eine zusammenfassende Tabelle eingeordnet wurden. Gestützt auf das SAV und die darin verwendeten Standardabweichungen werden die Gewährungskriterien als Haupt- und/oder Nebenindikatoren auf den Achsen 1 bis 5 verortet.
Validierte Kriterien zur Gewährung von Massnahmen der Psychomotoriktherapie
Fazit
Mit den neuen Kriterien zur Gewährung von Massnahmen der Psychomotoriktherapie können die gesetzlichen Vorgaben eingehalten und gleichzeitig bio-psycho-soziale Faktoren berücksichtigt werden. Dadurch gelingt es, den tatsächlichen Bedürfnissen der Kinder im Vorschulbereich gerecht zu werden. Die Psychomotorik ist als wirksame Therapie anerkannt und sie kann die Kinder im Vorschulbereich und ihre Familien in verschiedenen Entwicklungsbereichen unterstützen. Eine frühzeitige Intervention fördert die Integration der Kinder in Schule und Gesellschaft.
Eine Evaluation der neuen Gewährungskriterien ist für das Jahr 2025 vorgesehen. Dann soll überprüft werden, ob sie wirklich zu einer genauen Erfassung von Kindern mit besonderem Bildungsbedarf im Vorschulbereich beitragen. Für den Verband Psychomotorik Schweiz wäre dies eine wichtige Grundlage hinsichtlich seiner Strategie, die Psychomotoriktherapie in den Kantonen auf Kinder im Vorschulbereich auszuweiten. Der Schlussbericht der Arbeitsgruppe liegt auf Französisch und Deutsch vor und kann beim Verband angefordert werden.
Kontakt:
Simone Reichenau
Co-Geschäftsleiterin
Psychomotorik Schweiz simone.reichenau@psychomotorik-schweiz.ch
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